Humanität ist innerer Reichtum
Warum materieller Wohlstand bislang nicht zu Glück geführt hat
Rückschau in das Neunzehnte
Um die Gegenwart zu verstehen, schauen wir gern in die Vergangenheit. Mit Abstand betrachtet, werden Zusammenhänge oft klarer sichtbar: Als die große Welle der Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft vor etwa 200 Jahren begann und mit viel weniger Arbeitskräften immer mehr Menschen ernährt werden konnten, ging das einher mit der Befreiung von der Leibeigenschaft. Das brachte mehr Freiheit, mehr Mobilität, aber nicht unbedingt mehr Wohlstand.
Damals kamen frühsozialistische Utopien in Mode, die auf der Basis dessen gedacht wurden, was seinerzeit technologisch machbar erschien. Entwicklungen wie die von Raiffeisen und andere selbstorganisierte Commons-Modelle schienen zumindest das in der Primärwirtschaft (Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei) durch die langsame Auflösung feudaler Strukturen entstandene Regulations-Vakuum praktikabel zu füllen. Gleichzeitig stieg mit dem parallel rapide wachsenden Rohstoff-Bedarf die Maschinerie der extensiven Ausbeutung von Erdkruste und Arbeitskräften in der Montanwirtschaft.
Die Verfügbarkeit von erschwinglichen Ver- und Gebrauchsgütern hinkte noch immer hinter den finanziellen Möglichkeiten größerer Bevölkerungsschichten hinterher. Zu Beginn des Industriezeitalters erneuerten sich die Utopien mit Antworten, wie die Menschen künftig zusammenleben werden unter dem Aspekt der Urbanisierung. Wie schon knapp 100 Jahre zuvor, musste ein „Schuldiger“ dafür gefunden werden, dass es die Gesellschaft nicht vermochte, die Früchte des technologischen Fortschritts für alle verfügbar zu machen.
Ideologien der Sündenböcke
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde von Zeitgenossen nahezu einhellig die überkommene Ständegesellschaft als Bremse ausgemacht, solange bis diese zumindest vom politisch-rechtlichen Rahmen her aufgelöst war. Danach wurden die Analysen uneindeutiger: Marxistisch geprägte Kritiker verwiesen (und verweisen auch heute noch) auf unüberbrückbare Klassengegensätze, die den Wohlstand für alle verhindern.
Liberale Kritiker konnten bis vor kurzem noch Überregulierung und zu hohe staatliche Bürokratie als Bremse ausmachen. Zur Zeit befindet sich diese Sichtweise allerdings in einem Konjunkturtief. Linke wie rechte Verschwörungstheoretiker unterstellen dafür heute wieder mehr denn je, dass es im Interesse der Mächtigen sei, die Masse dumm oder arm – am besten beides zugleich – zu halten.
Utopie Freizeitgesellschaft
Die Digitalisierung und das Internet der Dinge kennzeichnen die Dritte „Revolution“, die – je nach Szenario – zu weltweitem Wohlstand oder Massenarmut führen kann. Als Computerisierung und Automatisierung vor mehr als 30 Jahren zu enormer Produktivitätssteigerung in der Industrie führten und fortan im Dienstleistungssektor das größere Potenzial für Erwerbstätigkeit gesehen wurde, träumten Optimisten von der 20-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, einem florierendem Freizeitsektor und glücklich-erfüllten Menschen. Die gibt es auch. Nur ist das eine recht kleine Minderheit. Ein gefühlt steigender Bevölkerungsanteil hält sich in Angst bei 70-Stunden-Wochen, stagnierenden Gehältern, befristeten Arbeitsverhältnissen, immer häufiger auch als Gewerbetreibende oder Freiberufler auf Prekariatsniveau. Wo ist sie hin, die Utopie von der Freizeitgesellschaft?
Mangel ist drinnen – nicht draußen
Das Problem ist nicht, dass die Utopie auf falschen Annahmen fußte, was die Möglichkeiten betrifft, materielle Bedürfnisse durch Herstellung von Produkten und Erbringung von Dienstleistungen immer besser zu bedienen. Auch die „Überalterung“, der steigende Anteil von Empfängern von Transferzahlungen, die Rentenfrage oder Konzepte wie das bedingungslose Grundeinkommen stellen keine grundsätzlich ungelösten Probleme dar. Es ist das Bewusstsein im Bezug auf den Platz in der Welt, das die größte Herausforderung für den einzelnen Menschen darstellt. Ein beachtlicher Teil der westlichen Bevölkerung erwartet – insbesondere in Deutschland – Antworten von Politikern, die diese gar nicht geben können.
Eine Welt in Freiheit – also das Gegenteil von Leibeigenschaft und politischer Unmündigkeit – erfordert selbstbestimmtes Denken und ein Sich-Selbst-Verorten. Aus meiner Sicht wird dieser Fakt dramatisch unterschätzt. Menschen fühlen sich leer und bedeutungslos, nicht etwa obwohl, sondern weil es ihnen materiell „eigentlich“ gut geht, sie keine Angst vor Hungersnot und körperlicher Unversehrtheit haben müssten. Wenn der Sinn des Lebens nicht mehr das pure Überleben ist und wir uns in einer komplex organisierten, schnelllebigen säkularen Welt wiederfinden, die keine allgemeingültigen Sinnvorgaben macht, suchen sich schwache Gemüter eben stark aussehende Sinnstifter: den IS, Salafisten oder nationalegoistische Bauernfänger wie Erdogan, Trump und Orban.
Ohne eine persönliche Lebensvision ist es einfacher, sich an einem klar skizzierten Feindbild abzuarbeiten. Den Sinn seines Lebens selbst finden zu müssen, ist vielen Menschen einfach zu anstrengend. Sie haben es auch nirgends gelernt, weder von ihren Eltern, noch in der Schule. Dennoch halte ich es für unzulässig, die Schuld „dem System“ zu geben. Jeder kann, wenn er wirklich will, den selbstbestimmten Menschen in sich entdecken, korrekter formuliert: sich für den selbstbestimmten Menschen in sich entscheiden.
Wider der Gesellschaftsspaltung
Die Frage, warum das Volk in Deutschland trotz außerordentlich hohem Lebensstandard, was Materielles und Sicherheit betrifft, so nah am Angstwasser gebaut ist, ist von Gesellschaftshistorikern schon diskutiert worden. Quer durch alle Schichten und Regionen ist eine Polarisierung zu beobachten: Auf der einen Seite angstdominierte Menschen, die andere (insbesondere Fremde) und auch das Neue, Unbekannte potenziell als Bedrohung, als Gefahr sehen und auf der anderen Seite Menschen, die offen und optimistisch auf andere zugehen, sie tendenziell und unvoreingenommen als Bereicherung betrachten, die Ungewissheiten des Lebens mit Neugierde und Unternehmergeist begegnen.
Erfolgreiches Unternehmersein beruht nach meiner Erfahrung mit über 200 beruflich selbständigen Coachees auf einem positiven Menschenbild. Bei Philipp Ruch, dem Gründer des Zentrums für politische Schönheit habe ich eine schöne wie zutreffende Analyse gefunden: „Es herrscht ein statistisches Ungleichgewicht zwischen Vorfällen, die beweisen sollen, wir seien unter der kulturellen Haut Bestien, und der Vielzahl eigener Erfahrungen, die dem radikal widersprechen. …Das Vorurteil, wir könnten uns auf Kosten anderer Menschen bereichern, ist weit verbreitet. Aber selbst ein Rassist, der andere verachtet, steigert letztlich nicht das Gefühl seines eigenen Wertes, sondern das Gefühl seiner Wertlosigkeit.“
Es ist an uns, keine Spaltung zuzulassen zwischen Menschen, die an die Menschheit glauben und denen, die es nicht tun – zwischen denen, die ihrem Leben selbst einen Sinn geben und denen, die ihr Heil im religiösen oder nationalistischen Fanatismus suchen.
Humanitäre Bewährungsprobe
Wer gegen etwas kämpft, findet kein Heil, auch nicht, wer gegen Unmenschlichkeit ankämpft. Eine der buddhistischen Hauptlehren besagt „Hass kann nur durch Nichthassen besiegt werden.“ Wir haben nur die Chance, für die Menschlichkeit zu kämpfen und beharrlich dabei bleiben, auch im Menschenverächter den Menschen zu sehen. Mit einer Spaltung verlieren alle. Mit einer Versöhnungspolitik haben wir wenigstens die Chance auf Frieden. Das bedeutet nicht, rassistischen Worten und Taten gleichgültig zuzusehen. Böse Worte und Taten sind mit aller Stärke zu verhindern und zu ächten.
Die Handlung eines Menschen kann be- und verurteilt werden. Der Mensch sollte in seinem Potenzial der positiven Entfaltung zur Humanität bis zum Ende geachtet bleiben. Nur in dieser Konsequenz sehe ich die volle Ausschöpfung von Humanität. Humanitäres Bewusstsein ist derzeit einer anspruchsvollen Bewährungsprobe ausgesetzt. Wenn Politiker anschlussfähig werden, die es als Akt der Stärke, womöglich sogar der Weisheit betrachten „sich nicht von Kinderaugen erpressen zu lassen“, benötigt es dringend einen deutlichen Schub humanitären Bewusstseins, wenn die Menschheit sich nicht selbst ausrotten will.
Welche Spezies ist überlebensfähig, wenn sie ihr grundlegendes Wesensmerkmal als falsch deklariert? Welchem Hund würde es einfallen, sein Hundsein zu negieren? Wie kann man auf die Idee kommen, dass Menschlichkeit der Menschheit schade? Nur das Gegenteil kann der Fall sein und damit schließe ich mit einem Zitat von Philipp Ruch: „Menschlichkeit nicht als ureigenes Interesse eines jeden Menschen zu verstehen wäre ein Unglück.“