Ökonomie der Flüchtlingshilfe – Was es uns kostet, nicht zu helfen.
Es wird immer dringender. Menschen fliehen oder werden vertrieben, suchen Frieden und Schutz. Fast immer sind sie traumatisiert – durch das was sie vor und während der Flucht erlebt haben. Und sie werden es oft auch nach ihrer Ankunft erleben: Traumatisierung durch herzlose Beamte oder demonstrative Ignoranz im Alltag: beim Einkaufen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und „besorgten Bürgern“, die es als ihre Berufung sehen, anderen Menschen das Leben zur Hölle zu machen.
Bürgerliche Sorgen
„Besorgte Bürger“ argumentieren selten mit dem, was sie wirklich motiviert, zu tun was sie tun: die Angst, zu kurz zu kommen, ärmer zu werden, noch weniger Anerkennung zu finden, als sie das ohnehin schon fühlen – nein, solche Beweggründe werden kaum in Facebook-Kommentaren und in deren Leitmedien wie Netzplanet.net thematisiert. Häufiger wird von Ökonomie gesprochen, davon, dass es sich unser Land nicht leisten kann, neben den berechtigten „echten Verfolgten“ auch die „Wirtschaftsflüchtlinge“ aufzunehmen. Es wird davon gesprochen, dass die Zuwanderung endlich begrenzt werden müsse. Ist sie das nicht längst? Werden nicht seit Jahren über 50 Prozent der Asylanträge abgelehnt? Ist die Zuwanderung etwa ungehindert, wenn Menschen zur Einreise viel Geld an Schleuser zahlen müssen, wenn Kinder über Bord geworfen werden, weil sie durch ihr Weinen das Passieren der EU-Grenze gefährden, wenn Menschen von Grenzorganen mit Waffengewalt zurückgedrängt werden?
Wer zahlt die Zeche? Und was ist die Zeche?
Fragen Sie die vielen tausend freiwilligen Helfer, die unentgeltlich arbeiten, diejenigen, die Geld und Sachen spenden: Geht es ihnen schlechter dadurch? Es geht ihnen besser. Gesellschaften sind dann reich, wenn Menschen für andere Menschen tätig sind, Werte schaffen, Leistungen liefern. Gesellschaften sind arm, wenn Raubbau, Ausbeutung und Gewalt herrschen.
Der Wohlstand unseres Landes leidet nicht unter finanziellen Hilfen, die Flüchtlingen zugute kommen. Der Wohlstand unseres Landes leidet unter Hasskultur und Zerstörungswut. Menschen, die man beleidigt, verletzt – psychisch oder körperlich – werden in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Im Extremfall werden sie so stark verletzt, dass sie selbst Hassgefühle manifestieren und auf Rache sinnen, sie werden gewalttätig, Krieger, Terroristen.
Die Zeche ist die Zerstörung und das erzeugte Leid, dass durch Hass, Aggression und tätliche Übergriffe entsteht. Bezahlen müssen indes wir alle. „Besorgte Bürger“ glauben möglicherweise tatsächlich, sie kämpfen für die richtige Sache und es sei patriotisch, Flüchtlingen den Aufenthalt in Deutschland derart zu verleiden, dass sie nicht mehr kommen wollen. Sie zerstören Flüchtlingsunterkünfte, damit es nicht mehr bezahlbar ist, solche einzurichten. Sie belästigen Menschen mit Morddrohungen, die sich engagieren, die Zeit und Geld für die Hilfe von Menschen investieren. Es soll lebensgefährlich werden, etwas für Menschen zu tun, die aus Sicht „besorgter Bürger“ Fressfeinde sind, Konkurrenten im Wettbewerb um knappe Güter: staatliche Wohlfahrt, Wohnraum, Arbeitsplätze, öffentliche Plätze, Trinkwasser.
Ökonomie vom Kopf auf die Füße gestellt
Es wäre menschenverachtend, sich auf diese Argumentation einzulassen. Wäre sie aber wenigstens theoretisch aus ökonomischer Sicht haltbar? Sie ist es nicht. Aus einem einzigen Grund: Es gibt keinen Mangel an Ressourcen, die der Mensch zum Leben benötigt, nicht einmal einen Mangel an Nahrung, Energie und Trinkwasser. Es gibt jedoch sehr wohl Unterschiede im Zugang. Von allem, was an einer Stelle fehlt, gibt es an einer anderen Stelle Überfluss. Es ist unfassbar, was bei uns an Nahrung in den Kühlschränken täglich verdirbt, wie viel Trinkwasser in den Abfluss fließt. Und es ist unfassbar, dass sich Menschen langweilen oder einfach Zeit totschlagen mit Lästern, Meckern, Schuldzuweisungen, sich mit Drogen und Alkohol betäuben und marodierend durch die Straßen und vor Flüchtlingsunterkünften ziehen, anstatt etwas nützliches zu tun. Nützlich ist, wenn brachliegende Ressourcen dorthin gelangen, wo sie gebraucht werden. Das ist Wirtschaft, die dem Menschen dient und den Wohlstand aller hebt. Wie viel Kindersachen, Spielzeug und Fahrräder müllen die Kellerräume zu? An vielen Ecken gäbe es Gärten und Bürgersteige zu pflegen, Müll aus Wäldern zu entfernen. Die Welt ist reich an Ressourcen und Möglichkeiten, sie von A nach B zu bringen. Dies zu sehen und zu organisieren ist Kern unternehmerischen Handelns: einsamen Menschen in Altersheimen oder Zuhause Gesellschaft zu leisten, Kindern Geschichten vorzulesen, mit ihnen zu spielen. Es gibt unendlich viele Verbesserungsansätze auf der einen Seite und auf der anderen Seite gibt es Menschen, die keine Aufgabe haben, keinen Sinn in ihrem Leben sehen. Dabei ist es so naheliegend, etwas sinnvolles und nützliches zu tun, das das Leben aller verbessert: ein weniger einsamer und nicht mehr verbitterter Rentner, ein Kind mehr, dessen Neugierde und Lernwillen nicht mehr durch Langeweile, perspektivloses Elternhaus und uninspirierende Schulstunden gebremst und getilgt wird, ein Asylsuchernder mehr, der nicht mehr Angst davor haben muss, ermordet zu werden, der seine Familie sicher vor Hunger und Kälte weiß und anfangen kann, an das Morgen zu denken und einer sinnvollen Arbeit nachzugehen.
Hass ist unwirtschaftlich
Was bringt Menschen dazu, Menschen zu hassen? Der Keim liegt in der Tradition der schwarzen Pädagogik begründet, in deren Menschenbild, wir würden als Biester geboren und müssten domestiziert werden. Solch eine Haltung manifestiert, den anderen Menschen als ein Objekt zu sehen, welches wir für unsere Ziele manipulieren müssen, anstatt in dem anderen ein menschliches Subjekt mit denselben Grundbedürfnissen zu sehen, die wir selbst haben. Nur so lässt sich die durch und durch inhumane Argumentation erklären, die Menschen danach vorverurteilt, ob sie Geld kosten oder Geld bringen. Wenn wir schon eine solche Rechnung aufstellen, dann sollten wir auch die viel schwerer wiegenden – weil zahl- und folgenreicheren – indirekten Faktoren berücksichtigen und nicht nur darauf schauen ob jemand Transferzahlungen bezieht oder Einkommenssteuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlt. Ungleich höher schlagen die indirekten Faktoren zu buche: Kosten des Gesundheitssystems (Behandlung von Verletzten, Operationen, Therapien), Schaden durch Krieg (Waffenhandel, Kollateralschäden bei militärischen Interventionen). Wer verursacht diese Kosten? Flüchtlinge selbst ja wohl nicht. Die Transferzahlungen zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes fließen direkt und mit zu vernachlässigender Zeitverzögerung in die Realwirtschaft statt in Steueroasen und virtuelle Finanzkreisläufe. Sicher, ein erheblicher Teil davon fließt auch zu den Familien in den Herkunftsländern, um die aufgenommenen Schulden zur Bezahlung der Schleuserindustrie zu begleichen. Die Schleuserindustrie existiert aber auch nur, weil wir uns angstgesteuert abschotten wollen.
Gefährlicher Pseudo-Rationalismus
Bereits im Juni wurde Altkanzler Helmut Schmidt auf Focus-Online als regelrechter Zuwanderungskritiker zurecht zitiert. Der anerkannte Scharfdenker Henryk M. Broder hat in seiner jüngsten Kolumne rasch vom Mitleid auf die Analyse übergeleitet, dass die Einwanderung Probleme schaffe und ökonomische, kulturelle und religiöse Konflikte heraufbeschworen. Aus meiner Sicht wären das die kleineren Übel verglichen mit den Konflikten, die die Welt erwarten, wenn man den Menschen nicht oder auch nur weniger Unterschlupf und Ersthilfe böte. Beim Einstieg auf die Meta-Ebene – vom konkreten Leid eines einzelnen Flüchtlings abstrahierend, um weltpolitische Zusammenhänge darüber zu betrachten – mutet es geradezu kleinkariert an, aus der Betroffenheitsperspektive eines einzelnen Staat(shaushalt)es zu argumentieren.
Dumm und fahrlässig ist es, die dringend nötige Hilfeleistung mit dem Thema Fachkräftemangel und Zuwanderung von Arbeitskräften zu vermengen. Dass gerade auch gut ausgebildete Syrer unter den Flüchtlingen sind, soll zwar häufig als Argument angeführt werden gegen das Vorurteil, es kämen nur ungebildete Bauern. Eine Klassifizierung zwischen Menschen ist jedoch wie Rassismus und Ausländerfeindlichkeit grundsätzlich menschenverachtend. Wer einen Fußgänger mit dem Auto angefahren hat und erste Hilfe leistet, fragt auch nicht vorher, ob er ein wertvoller Leistungsträger, Rentner oder Hartz-IV-Empfänger ist und macht die Hilfe davon abhängig, um den Staats- und Rentenhaushalt gegebenenfalls zu entlasten.
Einwanderung stellt Gleichgewicht wieder her
Die Fluchtbewegung ist eine folgerichtige Ausgleichsbewegung für die Jahrhunderte währenden Übergriffe europäischer Mächte durch Kolonialisierung, taktische Kooperationen mit despotischen Regimen, Waffenhandel, EU-Agrarsubventionen und sicher noch vieles mehr. Man muss kein Linksideologe sein, um diese Zusammenhänge herzustellen. Ich behaupte nicht, dass die Lösung einfach ist. Wir sind systemisch auf komplexe Weise verstrickt. Jede vermeintlich einfache Lösung kompliziert die Lage nicht nur, sie kann sie nach den Gesetzen der Chaostheorie sogar dramatisch eskalieren lassen. Wir sind mit den Schicksalen der Menschen, die zu uns fliehen bereits verbunden, bevor sie überhaupt aufgebrochen sind. Wir sind nicht automatisch an allem Schuld. Aber es ist auch unser Bier, was in den Herkunftsländern passiert. Gleichzeitig leben wir in dem Luxus, die Folgen (im Moment noch) nicht mit Gesundheit, Sicherheit und unserem Leben zu bezahlen. Das Hochziehen von Grenzmauern und rasiermesserscharfen NATO-Draht-Zäunen ist ein erneuter derber Übergriff, der das „Problem“ nur räumlich und nur unwesentlich zeitlich verlagert, aber mit Gewissheit weiter eskalieren lässt. Wir alle würden für ein paar Flüchtlinge weniger in 2015 einen hohen Preis zahlen. Wollen wir uns und unseren Kindern dies zumuten?
Kein Platz für‘s Differenziertsehen
In diesen Tagen fällt es mir so leicht wie nie, klare Position zu beziehen, weil es um nichts anderes geht als Menschlichkeit bzw. die Abwesenheit jener. Es ist sowohl dringend als auch wichtig, uneingeschränkt zu helfen. Jedes Zögern verbietet sich. Jedes Zögern verlängert Leid, multipliziert Leid. Wir können es uns nicht leisten, dass die Zahl der leidenden Menschen schneller steigt als nötig.
Einwanderung ist Streben nach Gleichgewicht. Sich dagegen aufzulehnen ist nicht nur dumm und menschenverachtend, sondern zudem grob fahrlässig im Sinne der Selbsterhaltung.
Dieser Beitrag ist Teil von Blogger für Flüchtlinge und ist verbunden mit einer Spendensammlung.